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Die barrierefreie Szene – eine Unlust

Aktuelle Debatten um die barrierefreie Szene, die ich in meinem Artikel Barrierefreiheit von unten: ein Schlichtungsversuch versucht habe zu beleuchten und in eine andere Richtung zu lenken, sind oftmals auch alte Debatten. Jens Grochtdreis hat die Debatte erneut aufgenommen mit Barrierefreiheit muss sexy sein und auch Eric Eggert mit Yes, we need accessibility laws hat versucht, die unscharfe Balance zwischen Gesetzgebung und barrierefreier Praxis noch einmal deutlich zu machen.

Rückblick auf den A-Tag ’08: ein Déjà-vu

Ich habe in meinen Archiven geblättert und meine Wünsche noch einmal Revue passieren lassen, die ich dem letztjährigen A-Tag hinterher geschickt habe: Schon letztes Mal war der Wunsch überpräsent, dass Barrierefreiheit cooler werden und auch mehr Spaß machen soll. Der Frauenanteil auf Konferenzen und in der barrierefreien Szene soll sich endlich erhöhen – und damit meinte ich nicht, dass es keine Frauen gäbe, die barrierefreies Webdesign machen. Nein, es ging mir darum, dass sie sich zu wenig in der Öffentlichkeit positionieren. Ich selbst durfte ja auf der Fronteers 09 vor kurzem erleben, was es heißt, von Molly Holzschlag wieder mal sehr intensiv darauf aufmerksam gemacht zu werden, dass Frauen öffentlich sprechen müssen. Sie hat uns wenige Frauen dort ziemlich in die Bredouille gebracht.

Noch interessanter ist, dass ich letztes Jahr schon eine einheitlichere barrierefreie Szene, die sich in welcher Form auch immer einem gemeinsamen Accessibility Commons verschreibt, gefordert habe. Freilich stand das noch stark unter der Erfahrung der Social Accessibility Bewegung, die letztes Jahr mit etlichen Projekten schlicht sehr präsent geworden ist. Das Projekt Accessbility Commons – wieder einmal mit initiiert von dem umtriebigen Jeffrey Bigham – den meisten wahrscheinlich durch seinen Webscreenreader WebAnywhere bekannt – soll eine Art Metadatenbank sein, in der Informationen zur Barrierefreiheit aus unterschiedlichsten Projekten zusammenlaufen, gespeichert und wieder von allen genutzt werden können.

So etwas ähnliches hätte ich mir für die deutschsprachige Szene auch immer gewünscht, eine Art Informationsdatenbank – auch mit Austausch- und Diskussionsmöglichkeit -, wo man sich über aktuellste Ergebnisse auf dem Laufenden halten und austauschen kann. Klar, kann man das alles individuell bloggen, Informationen lesen wir ja eh täglich an und durch, unterhalten uns marginal in Twitter darüber, ab und an auch noch in Kommentaren. Aber ein richtiger Austausch ist das nicht. Nein.

Und auch diesen immer wieder heiklen Punkt hatte ich schon letztes Jahr nach dem A-Tag notiert: In der barrierefreien Szene ist rückhaltlose Kritik nötig und wichtig. Dabei meint rückhaltlos nicht, dass wir jetzt hingehen und überall ad personam argumentieren nach dem Motto, dass hat der oder die ja wieder nicht hingekriegt. Fachliche Kritik ist aber innerhalb der Szene notwendig, sonst glauben wir, wir polstern Webseiten nur noch mit barrierefreiem Samt aus. Wenn wir uns mit dem fachlichen Stand der barrierefreien Szene so wohl fühlen würden, wie es sich nach aussen immer mal wieder kommuniziert, dann hätten wir blühende barrierefreie Landschaften. 😉 Das sollte jetzt jedoch kein konservativer, politischer Schulterschluss werden. Es meint aber, dass wir uns immer noch nach dem alten Motto verstecken, es wird schon alles gut: Sei es durch das alte BITV, durch das neue, durch die WCAG 2 oder durch das Herbeiholen, ja Herbeiwünschen eines Ansatzes von Christian Heilmann, der sich nun mal mehr der Social Accessibility verpflichtet fühlt.

Wir können uns gerne auch weiterhin bewusst missverstehen

Heiße Debatten, die sich an Chris Heilmanns Vortrag auf dem A-Tag ’09 entzündet haben, haben im Grunde nur eins gezeigt, dass wir uns nicht mehr richtig zuhören. Wir arbeiten weder ohne Gesetzgebung – sind also beileibe keine Vogelfreien der Barrierefreiheit -, noch frönen wir nur noch – getreu dem Motto der Spassgesellschaft – einem barrierefreien Hedonismus und fühlen uns ganz auf der Höhe des barrierefreien Booms, der uns schon mal alle vier grade und den Rest hinter uns lassen lässt, und schon erst recht nicht agieren und votieren wir gegen Menschenrechte. Was für ein Unsinn, diese ganzen Kommentare – mitunter auch extrem persönlich – in den letzten Debatten mit- und nachzulesen. Was soll das bringen? Oder ist es eine notwendige Pattstellung, die schon seit längerem gegärt hat in der Szene und sich jetzt schlicht Luft verschafft hat? Also ich war sehr überrascht über diese Debatte, mir waren so die Problemlinien nicht bekannt.

Wenn Jens Grochtdreis nun eine Etatismusstreit aufmacht, dann komme ich mir schon arg ins barrierefreie Mittelalter versetzt vor. Seit wann arbeiten und argumentieren wir in dieser Schere, wo wir seit Jahren nach und mit BTIV und WCAG arbeiten? Und Tomas Caspers versteht ihn auch noch ein wenig miss, wenn er im Kommentar davon spricht, dass wir ohne entsprechende Sanktionen, die es ja durchaus in anderen Ländern wie etwa Österreich gibt, nicht wirklich weiter kommen. Ich denke, genau das will Grochtdreis grade nicht. Aber egal – auch wieder nur so ein Zeichen dafür, dass wir alle in dieser Diskussion aneinander vorbeireden. Dabei würde es gerade in so einer Situation nötig sein, die unterschiedlichen Standpunkte und Herangehensweisen – etwa von Entwicklern, Gesetzesvorgaben, Behörden und Initiativen – klar zu sehen. Auch Chris Heilmann arbeitet nach den Vorgaben des WCAG 2, aber er würde es auch ohne mit gleicher Vehemenz und Intention tun. Das trifft doch auf die meisten von uns zu.

Auf dem A-Tag habe ich dieses Jahr vor allem mitgenommen, dass es doch etwas ganz anderes ist, in einem gesetzlichen Umfeld zu arbeiten, in dem eben auch und vehement geklagt wird. Das spürt man sowohl an den realisierten und präsentieren Projekten als auch an den Machern. Da steckt ein ganz anderes Selbstbewusstsein dahinter, vor allem in Gesprächen mit Martin Ladstätter und Jo Spellbrink konnte man das gut erkennen, da liegt einfach schon ein ganz anderes Klageverständnis und -praxis vor. So was ist für mich in Deutschland kaum vorstellbar – aber vielleicht sollten wir wirklich auch darauf hinarbeiten, dass es in Deutschland dafür ein Reglement und eine Praxis gibt. Diese Klagepraxis in Österreich kann einem schon auch ziemlichen Schwung vermitteln, also mir hat es das jedenfalls.

Ich will damit nur sagen, ich kann mir das vorstellen – so eine Klagepraxis, auch die Notwendigkeit ist ja leider immer noch gegeben. Gerade weil sich die Privaten in Deutschland nur in Einzelfällen von Barrierefreiheit überzeugen lassen, es sei denn, man verkauft sie so, dass sie sexy, möglichst viele positive Nebeneffekte und vor allem preiswert bleibt. Muss man nicht weiter ausführen, ist ja bekannt. Das ist halt immer noch der Stand der barrierefreien Praxis im allgemeinen privaten Mittelfeld, in Agenturen, die ihren Fokus nicht nur auf barrierefreiere Arbeit haben und bei Kunden, die endlich und schnell eine Webseite haben wollen. Da sind wir halt mehr oder weniger immer noch am Anfang.

Vom A-Tag habe ich aber mitgenommen, dass so Großprojekte wie wien.info und linz.at auch von einer Klagepraxis für Private profitieren. Da geht man selbstverständlicher voran und greift in das barrierefreie Volle. Das war mein Eindruck und das hat mir auch Schwung gegeben und hoffe, ein wenig vom Wiener Selbstbewusstsein mitgenommen zu haben. Man merkt mittlerweile halt auch – die barrierefreie Wiener Szene um accessible media hat sich konsolidiert, was meint: Da ist eine gute, intensive Vernetzung zu spüren, auch wenn sie auf Wien zentriert ist. Aus Gesprächen mit Salzburgern wurde mir das bestätigt, dass der barrierefreie Fixpunkt dann doch in Wien zu finden ist, in Salzburg sei die Vernetzung sehr gering. Das neue Selbstverständnis, wie ich es nennen möchte, der Wiener barrierefreien Szene zeigt sich etwa auch in der Artikelreihe von Wienfluss, in der sie sehr praxisnah über die unterschiedlichen Aspekte des Launches von wien.info berichten: Making of wien.info – ein Blick unter die Tuchent. So etwas würde ich mir überhaupt mehr wünschen, vor allem auch für die deutsche Szene. Leider haben wir hier nicht alle die Freiheit, über interne Abläufe zu berichten, aber Agenturen haben da ja andere Möglichkeiten und könnten die auch verstärkter nutzen. Das wäre eine Möglichkeit, mehr Transparenz zu erreichen und Reaktion von anderen einzufordern.

Ich allein kann und will das nicht mehr stemmen

Auch wenn ich mich durchaus innerhalb der barrierefreien Szene positioniere, sehe ich mich trotzdem als einzelner Entwickler, der eben alleine eine barrierefreie Szene nicht öffnen kann. Schon gar nicht, wenn sie – wie im deutschen Bereich – so versprengt und meisthin – bis auf die bekannten Größen – still vor sich hin entwickelt. Auch wenn Chris Heilmann in einem Kommentar nun erwartungsvoll auf die deutschsprachige Szene blickt und meint, jetzt würden doch einige aufstehen und was machen, habe ich meinen x-ten Versuch, eine flammende Fürsprache für mehr lustvolle und interaktive barrierefreie Entwicklungsarbeit, in den üblichen Leerlauf gesetzt. Freilich in Twitter wird das schön oft retweeted, in einigen Kommentaren wird einem beigepflichtet, in anderen Kommentaren genau das Gegenteil, schließlich sind wieder einige Wochen vergangen.

Das mag sich jetzt nach Lamento anhören, ist es auch in gewisser Weise. Ich mache diese Versuche, andere – vor allem Praktiker – zu mehr Zusammenarbeit und Interaktion aufzurufen, einfach schon zu lange. Ich alleine kann und will das nicht mehr stemmen, schließlich habe ich einen Fulltime-Job, der nur bedingt immer barrierefreie Arbeit bedeutet. Ich mache diese für mich wichtige Weiterarbeit von barrierefreien Techniken und Themen nebenher und weil es mir so am Herzen liegt. Da ich dieses Jahr aber durchaus gemerkt habe, dass mein Herz zu groß ist – ganz abgesehen davon, ob ich überhaupt ein Herz habe 😉 – und ich mich als Einzelperson dann auch gerne mal übernehme, muss ich auch daraus Konsequenzen ziehen. Nicht nur aus der Stille, die sich aus der barrierefreien Szene immer wieder nach erneuten Debatten, Ansätzen, gegenseitigen Wünschen und doch, sollten wir endlich ja! ausbreitet. Wir hatten ja auch mal ein alternatives Netzwerk angedacht, ja auch das.

Ich für meinen Teil verzichte nun eher auf barrierefreie Grundsatz- und Volksreden. Ich kann auch weniger an Großprojekten wie der Übersetzung des WCAG 2 mitwirken – durchaus ein wichtiges und vor allem dringendes Projekt -, nicht mal die Durchkommentierung des neuen BITV-Tests habe ich geschafft. Damit will ich nur sagen, ich lerne langsam mit meinen Kräften zu haushalten, ich muss es lernen – und ich beginne Realitäten in der barrierefreien Szene zu akzeptieren: Es kann und wird nicht sein, wenn es keiner will – sich beständig und vor allem gemeinsam zu aktualisieren.

Ich hatte ja meinen Ansatz im Schlichtungsversuch klar gemacht, ich sehe meinen Aufgabe in einer Barrierefreiheit von unten – als eine Basisarbeit, die Wege weiterführen kann – auch wenn ich sie nur in kleinen Schritten realisieren kann. Weil ich denke, dass wir im deutschsprachigen Raum weit in der Basisarbeit hinterherhinken. Das ist schade. Ich werde auch versuchen, mich mehr internationalen Projekten anzuschließen, vor allem im Bereich der Social Accessibilty, weil ich zum einen glaube, dass sie meinem basis- und praxisnahen Ansatz näher ist und zum anderen mir offener nach aussen scheint als hier. Freilich kann ich auch dort nur schmale Anteile mitrealisieren, aber besser dort als hier immer nur ins Off zu sprechen.

Und ich würde dann Heraklit schon ummünzen wollen: Man sollte schlicht nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Es lohnt sich nicht wirklich. 😉

11 Antworten auf “Die barrierefreie Szene – eine Unlust”

  1. Ich habe schon viele „Szenen“ miterlebt (z.T. auch geprägt) und dabei immer wieder festgestellt: Es gibt Macher, und es gibt Besserwisser. Es gibt Pragmatiker, und es gibt Ideologen. Nach meiner Erfahrung ist es am befriedigsten, wenn man einfach tut, was man für richtig hält, und die „Szene“ sich selbst überlässt.

  2. @Matthias

    Das mag durchaus so stimmen. 🙂 Ich bevorzuge jetzt auch, die Szene sich selbst zu überlassen. Aber: Gerade die barrierefreie Szene würde mehr Input, mehr kompetente Leute brauchen. Schade.

  3. Die Basisarbeit ist der Knackpunkt. Es bringt die Welt nicht nach vorne, wenn elitäre Zirkel Feinstprobleme diskutieren. Barrierefreiheit muß „raus in die Welt“ „draußen zum Volk“ gebracht werden. Wenn Lernende (und Lehrende) der Webentwicklung Barrierefreiheit als normalen Bestandteil kennen, sind wir einen großen Schritt weiter.
    Und da passiert schon was… Das ist gut so und wenn die „Szene“ noch nicht ganz eingeschlafen ist, geht sie mit.
    Die Hoffnung stirbt zuletzt.

  4. @Maik

    Diese Basisarbeit werde ich ja weiterhin leisten und wenn sich was interessantes denn doch mal tun sollte in der barrierefreien Szene, was auch mal nicht an die bekannten Inititativen gekoppelt ist – die machen eh seit Jahren ihre, gute Arbeit -, dann bin ich auch gerne dabei.

    Was einfach fehlt ist der Austauch von Entwicklern, es muss sie ja doch zuhauf geben. Irgendwo – sicherlich. 🙂 Mir geht es halt um die aktuellen Themen: wo finde ich wirklich den besten barrierefreien Tooltip, ist der Flowplayer wirklich schon einsetzbar, wo kann man ihn barrierefreier machen etc. Mir fallen da unheimlich viele Beispiele ein. Jeder entscheidet das in seinem Entwickler-Kämmerchen. Das ist schade, da geht viel Information verloren.

  5. @Henry Zeitler

    Ich finde, der Link trifft den Szenebegriff aber ziemlich genau. Er ist ja auch in der Wikipedia entsprechend grob gekennzeichnet als ein soziales Netzwerk von Leuten, die sich um gemeinsame Interessen verdichten, beschrieben.

    Und es gibt definitiv eine barrierfreie Szene oder soll das jetzt zur Diskussion gestellt werden?

  6. Nein, ich möchte die Existenz einer „barrierefreien Szene“ überhaupt nicht anzweifeln. Es gibt definitiv eine 😉
    Eine Szene impliziert aber immer zwei Zustände – drinnen und draussen. Als „Sympathisant“ könnte man nun den Eindruck gewinnen, sich erstmal in einer Szene etablieren zu müssen um sich für Barrierefreiheit einsetzen zu können. Das finde ich aus marketingtechnischer Sicht etwas ungeschickt.
    Warum muss man um eine gute Sache von allgemeinem Interesse eine Szene gründen? Vielleicht sollte man es in diesem Fall mal mit einer „Gemeinschaft“ oder „Community“ versuchen. Das klingt irgendwie besser…

  7. Hallo Henry,

    Uff, dachte schon, wir würden uns jetzt über Definitionsfragen und Existenz von unterhalten … Das ist gar nicht mein Thema, ob es eine Szene gibt und welche.

    Nein, so sollte das niemals verstanden werden. Ich bin ja selbst mehr aussen als innen. 🙂 Ich halte eher wenig von Szenen, weil sie implizit eher nicht so spannende Strukturen mitbringen, über die ich mich hier nicht äußern möchte.

    Und deswegen war mein Artikel kein Aufruf an ein Drinnen oder Draußen in der Szene, sondern ein durchaus sehr sehr dringlicher Aufruf an barrierefreie Webentwickler.

    Also Gemeinschaft finde ich immer schwierig so als Begriff und Community impliziert für mich dann eher mehr, als eine gemeinsame Webentwicklung braucht. Weiss grade nicht so genau.

    Ich sehe das durchaus so, mit einigen Leuten verbindet mich im Thema ein fachlicher Zusammenhang und letztlich ist mir das schnuppe, ob der oder die dann zu der Szene gehört. Sondern es geht darum, Themen voranzubringen. Das war meine Intention all die Jahre und ich habe in diesem Artikel einfach auch mal Frust geschoben – was ich eher selten online mache, aber manchmal sei es mir erlaubt und in einem persönlich gestalteten Blog auch mal verständlich.

    Ich find es halt fachlich und persönlich schade, dass sich nicht mehr barrierefreie Webentwickler zusammentun, um an welchen Themen auch immer, gemeinsam arbeiten. Ich nehme das für den englischen Sprachraum einfach mehr wahr. Aber vielleicht habe ich da auch eine zu rosarote Brille. 🙂

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